Das neue Bild des Präkambriums

Die Existenz eines regelrechten Biotops komplexer Mehrzeller vor mehr als 2 Milliarden Jahren hat natürlich gewaltige Auswirkungen auf alle bisherigen Vermutungen, wie das Präkambrium ausgesehen hat - also des Zeitraums, der rund siebenmal so lange dauerte wie das Phanerozoikum seit der "Kambrischen Explosion" vor 542 Millionen Jahren. Der eigentlich veraltete Begriff des Präkambriums wird hier noch als Gesamtbezeichnung des Zeitraums vor dem Kambrium verwendet.

Bevor das belebte Ediacarium vor 635 Millionen Jahren begann, sind allenfalls einzelne "Vorkommnisse" in der Diskussion, wie Grypania spiralis - eine fadenförmige Struktur, die ebenfalls ab 2,1 Milliarden Jahren bis ins Mesoproterozoikum existierte und in Indien China und Nordamerika gefunden wurde, wohl eine eukaryotische Alge - und Horodyskia, in rund 1,5 Milliarden Jahren alten Schichten Montanas und Australiens entdeckt, möglicherweise ein früher Pilz. Ansonsten galt das Präkambrium bislang als relativ leer, was das Leben betrifft. Mal abgesehen von jenen prokaryotischen Einzellern, die die Stromatolithe aufbauten.

Gabonionten - und die Folgen

Wenn es nun also schon im Paläoproterozoikum Einzeller mit Zellkernen (Eukaryoten) gab, die sich nicht nur lose zu kommunizierenden Zellverbänden zusammenfanden, sondern mehrzellige komplexe Lebewesen formten, dann stimmen offenbar auch die Abfolgen von Prokaryoten (ohne Zellkern) und Eukaryoten nicht mehr, und dann muss gefragt werden, ob es lauter evolutionäre Inseln im Präkambrium gab oder doch zusammenhängende Entwicklungen über Jahrmilliarden hinweg und möglicherweise weltweit.

In Band 1 "Wohin die Spuren führen" habe ich u.a. zwei zentrale Thesen aufgestellt:

        1)   Das mehrzellige Leben ist mehr als doppelt so alt wie bisher angenommen. Beispiele: Horodyskia, nachgewiesen als mehr-          zelliges komplexes Lebewesen, Wurmspuren und andere Objekte, die als anorganische Erscheinungen nicht denkbar sind. Stichwort: Montana-Fauna (ca. 1,8 bis 0,8 Mrd. Jahre).   
       2)      Entwicklung findet nicht durchgängig und konsequent zum Höheren statt - wie es Darwins deutsche Speerspitze Ernst Haeckel mit seiner berühmt-berüchtigten Darstellung eines Lebensbaums mit dem Menschen als Krone der eigenschöpferischen Evolution suggeriert -, sondern zwischen katastrophalen Ereignissen, die einen Großteil der vorhandenen Lebewesen auslöschen und neue Biosphären schaffen.
                
                Einschneidendste Beispiele: das abrupte Ende der paläo-
                zoischen Lebewelt am Ende des Perm-Zeitalters vor rund
                250 Millionen Jahren oder des mesozoischen Lebens am
                Ende der Kreide-Zeit vor rund 65 Millionen Jahren. Es gibt
                aber immer Verbindungen zwischen den aufeinanderfolgen-
                den Biosphären. Stichwort: Intervall-Modell.


Die Existenz der Gabonionten vor mehr als 2 Milliarden Jahren unterstreicht diese Thesen auf eindrucksvolle Weise. Denn nun stellt sich die Frage nicht mehr, ob es denn vor ca. 1,5 Milliarden Jahren mehrzellige Lebewesen gegeben haben könnte oder ob das ausgeschlossen ist, weil nicht sein kann, was laut Lehrmeinung nicht sein darf. Die Montana-Fauna zwischen der Franceville-Fauna und der Ediacara-Fauna ist also nicht nur möglich, sondern auch logisch.

Professor El Albani hatte im "Le Journal" (Motto: "Der Wissenschaft einen Sinn geben") des französischen Wissenschafts-Zentrums CNRS am 25. Juni 2014 erklärt: "Der erste große Sauerstoff-Spitzenwert hat nur 200 bis 300 Millionen Jahre angedauert und milderte sich vor etwa 2 Milliarden Jahren vor unserer Zeit ab. Der Sauerstoff-Anteil sank erheblich, und die Erde wurde durch den Sauerstoffverlust rund eine Milliarde Jahre lang in einen Zustand versetzt, der möglicherweise die Auslöschung der Franceville-Biota verursacht hat und die Rückkehr zu einem ausschließlich mikrobiellen Leben."

In unserem Briefwechsel hat Abderrazak El Albani diese Aussage revidiert. Ich hatte ihm den 1. Band "Wohin die Spuren führen" geschickt und ihn direkt auf die Montana-Fauna angesprochen. Am 30. August 2014 schreibt er mir: "Was die Formen vor Ediacara betrifft, die Sie zitieren, bin ich völlig einverstanden, dass sie ihren Platz im biologischen Register haben. Vielleicht repräsentieren sie Zwischenstadien des Lebens", nämlich zwischen Franceville und Ediacara.

Franceville-Organismus

Denn die Franceville-Fauna passt sich nahtlos ein in die Abfolge von "schöpferischen Katastrophen" und Entwicklungen neuartiger Lebewelten. So finden wir vor der Franceville-Fauna nicht nur die erste Sauer-stoffkatastrophe ("Great Oxydation Event" GOE), bei der das mikrobielle Leben beinahe gänzlich "vergiftet" worden wäre, sondern auch die "Huronische Eiszeit". Ihren Namen hat diese massive Kälteperiode von Schichtfolgen in der Gegend des Huronsees, durch den die Grenze zwischen den USA und Kanada verläuft. Diese Schichtfolgen erlauben eine Rekonstruktion der damaligen Gletscherbewegungen. Die Ediacara-Fauna wird wiederum von einem zweiten "Great Oxydation Event" und mehreren aufeinander folgenden - teilweise totalen - Eiszeiten ("Eisball Erde") eingeleitet.

Beides hat einen Zusammenhang. Höhere Sauerstoffwerte korrelieren mit einem kühleren Klima. Mehr Sauerstoff in der Hydro- und der Atmosphäre - so die Verfasser einer Studie in "Nature" (2009) - sorge dafür, dass Organismen mehr Kohlendioxyd verbrauchten. Professor Robert Frei (Kopenhagen/Dänemark), Professor Donald E. Canfield (Odense/DK) und Mitautoren folgerten, dass es anschließend kälter wurde, weil die Konzentration des Treibhausgases gesunken sei.

Und beendet wurde diese Fauna durch das plötzliche rapide Wiederabsinken des Sauerstoffgehalts, verbunden mit Groß-Impakten vor rund 2,025 Milliarden Jahren (Südafrika) und 1,850 Milliarden Jahren (Kanada), die gewiss nicht ohne Einfluß auf Klima und Leben gewesen sind. Dass es Verbindungen zwischen den belebten Welten gibt - sozusagen als Kern neuer Faunen -, zeigt zum Beispiel das als eukaryotische Alge gedeutete Fossil Grypania spiralis, das vor dem Sauerstoff-Backlash während der Franceville-Fauna existierte (2,1 Mrd./Michigan) und danach während der Montana-Fauna (1,3 Mrd./China).

Der Wechsel von Katastrophen und Entwicklungen ist von Beginn an entscheidendes Kennzeichen der Erdgeschichte. Bereits 1992 schreiben Prof. Dr. Gero Hillmer und Dr. Joachim Scholz, damals beide Universität Hamburg, in der Zeitschrift  "GEO": "Es gibt kein allmähliches, lineares Hinübergleiten von einem Zustand in den nächsten. Auf die Schönwetterperiode folgt der katastrophale, plötzliche Zusammenbruch (und dann ein neuer Anfang)."

Im Ernstfall hilft auch keine noch so ideale Anpassung. Der US-Paläontologe Stephen Jay Gould brachte das Beispiel von Fischen: “Sie mögen noch so vollkommen an das Leben im Wasser angepasst sein - wenn die Seen austrocknen, kommen sie alle um.“

Verbindungen der einzelnen "Evolutionen" zwischen den Katastrophen gibt es: die uralten "Kontrollgene". Sie sind in allen Tieren, in allen Mehrzellern in ähnlicher Form zu finden. Die Biologin und Nobelpreisträ-gerin Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Vollhard nannte sie 2004 "Hox-Gene", eigentlich Homöobox-Gene. Sie steuern die Embryonalentwicklung. Klaus Foppa, Psychologie-Professor in Bern mit Interesse an Evolutions-biologie, Menschheits- und Kulturentwicklung, schreibt in seinem Buch "Jenseits von Darwin" (2011): "Die gemeinsamen Kontrollgene für die Entwicklung zeigen enge Beziehungen zwischen Gruppen, die man bisher wegen ihrer unterschiedlichen Morphologien nicht im entferntesten vermutet hatte."